Nachhaltigkeit ist der Megatrend unserer Zeit und allgegenwärtig – auch für die Agrar- und Ernährungsbranche. Die braucht sich in Sachen Nachhaltigkeit überhaupt nicht verstecken, meint Dr. Lina von Fricken. Sie sieht vor allem die vielen Chancen, die sich aus der Forderung nach mehr Nachhaltigkeit ergeben.
Frau von Fricken, Sie verantworten beim Stalleinrichter Big Dutchman das Thema Nachhaltigkeit, und zwar weltweit für die gesamte Unternehmensgruppe. Was unterscheidet uns von anderen Ländern bei diesem Thema?
In Deutschland hat man oft den Eindruck, dass wir absoluter Vorreiter beim Thema Nachhaltigkeit sind. Die Wahrheit ist: Einige unserer Nachbarn, etwa die Niederlande oder Frankreich, sind längst weiter als Deutschland. Und auch in Asien oder Südamerika gibt es inzwischen Länder, in denen Nachhaltigkeit ein wichtiges Produktionskriterium ist. Anders sieht das etwa in den USA aus.
Sehr schade finde ich, dass das Thema bei uns eher negativ besetzt ist. Die Forderung nach Nachhaltigkeit wird sehr oft als Behinderung, als Einschränkung bei wirtschaftlichen Aktivitäten empfunden. Das ist in anderen Ländern anders. Dort sieht man mehr die Chancen, die sich ergeben. Anders formuliert: Dort überlegt sich die Wirtschaft, wie man neue Geschäftsmodelle entwickelt, die Lösungen für mehr Nachhaltigkeit bieten. Da schlummern auch in Deutschland noch sehr viele ungenutzte Potenziale.
„In anderen Teilen der Welt sieht man Nachhaltigkeit viel mehr als Chance, neue Geschäftsfelder zu entwickeln.“
Dr. Lina von Fricken
Was bedeutet die Forderung nach Nachhaltigkeit für die Agrar- und Ernährungsbranche?
Grundlage für die Forderung nach mehr Nachhaltigkeit ist die ‚Agenda 2030‘ der Vereinten Nationen, die 2015 von fast allen Mitgliedsstaaten unterschrieben wurde. Das Leitbild ist, allen acht Milliarden Bewohnern der Erde ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen und gleichzeitig die natürlichen Lebensgrund-lagen dauerhaft zu bewahren. Dies umfasst also nicht nur ökologische, sondern ebenso ökonomische und soziale Aspekte.
Deutschland setzt die ‚Agenda 2030‘ mit der ‚Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie‘ um. Die Agrar- und Ernährungsbranche ist an vielen Stellen beteiligt. Etwa beim Klimaschutzgesetz, das Treibhausgasneutralität bis 2045 vorsieht. Dafür müssen die Emissionen deutlich gesenkt werden. Zur Nachhaltigkeitsstrategie gehört auch, den Anteil Erneuerbarer Energien zu erhöhen oder den Ökolandbau zu fördern.
Aber die Forderung nach mehr Nachhaltigkeit kommt nicht nur von Seiten der Politik?
Das ist richtig. Nachhaltigkeit ist der Megatrend unserer Zeit. Die Forderung nach mehr Nachhaltigkeit kommt quasi aus allen Ecken. Verbraucherinnen und Verbraucher wollen nachhaltiger konsumieren und leben. Der Lebensmittelhandel setzt dies um in Form von konkreten Produktanforderungen an seine Lieferanten. Davon ist die gesamte Produktionskette betroffen, also auch die landwirtschaftliche Urproduktion.
Ein Problem sehe ich darin, dass Verbraucher oft, um es vorsichtig auszudrücken, etwas andere Vorstellungen von Nach-haltigkeit haben als die wissenschaftlichen Definitionen sowie die praktische Realität von Nachhaltigkeit auf den Betrieben. Für viele Verbraucher heißt Nachhaltigkeit zum Beispiel Verzicht auf Fleisch oder auf tierische Produkte – oder einfach mehr Bio.
Das ist zu eindimensional gedacht. Nachhaltigkeit bedeutet ebenso Effizienz, das gilt auch für die Landwirtschaft und die Tierhaltung. Weser-Ems ist ein Gunststandort für die Tierhaltung. Wir können hier effizient produzieren. Das ist nachhaltig. Da gibt es meines Erachtens eine echte Kommunikationslücke zum Verbraucher.
„Wir sind ganz klar ein Gunststandort für die Tierhaltung, das zählt auch bei der Nachhaltigkeit.“
Dr. Lina von Fricken
Wie kann man die Kommunikationslücke schließen? Was sagen Sie den Kritikern, die die Tierhaltung als ‚Klimakiller‘ sehen?
Die Tierhaltung ist ein wesentlicher Bestandteil, ein Garant für nachhaltige Produktion. Menschen können nur einen bestimmten Anteil erzeugter Pflanzen direkt essen. Beim Getreide sind es die Körner, das Stroh können nur Tiere verwerten. Oder den Grünlandaufwuchs, den fressen nur Rinder und Schafe.
Im Nordwesten Niedersachsens ist die Tierhaltung wesentlicher Teil der agrarischen Wertschöpfung. Und wir sind, wie schon erwähnt, ein Gunststandort für die Tierproduktion. Wir haben das Know-how und eine vor- und nachgelagerte Wirtschaft. Wir können hier effizient produzieren. Darauf sollten wir stolz sein und das auch entsprechend kommunizieren.
Gerade beim Thema Nachhaltigkeit ist Transparenz sehr wichtig. Wir sollten zeigen, wie in der Kette verantwortungsvoll produziert wird.
Wir brauchen uns hier nicht zu verstecken. Einige konkrete Beispiele dafür sind die N- und P-reduzierte Fütterung, die Verbesserung der Futterverwertung, die Veredlung von Wirtschaftsdünger über Biogasanlagen oder das Spot-Spraying, mit dem 80 bis 90 Prozent Pflanzenschutzmittel eingespart werden können. Das, was wir allgemein unter ‚guter landwirtschaftlicher Praxis‘ verstehen, ist oft schon nachhaltig.
Gleichzeitig sollten wir uns natürlich nicht auf unseren bisherigen Erfolgen ausruhen, sondern permanent bestrebt sein, noch nachhaltiger zu werden.
„Die sprichwörtliche ‚gute landwirtschaftliche Praxis‘ ist grundsätzlich schon nachhaltig.“
Dr. Lina von Fricken
Gibt es einheitliche Standards, mit denen Nachhaltigkeit gemessen oder bewertet werden kann? Und die gleiche Frage zum CO2-Fußabdruck, er ist ja Messgröße für die ökologische Seite der Nachhaltigkeit?
Es gibt schon eine Reihe von Standards, aber eben nicht DEN einen Standard für die Landwirtschaft oder für den Pflanzenbau bzw. die Tierproduktion. Auch die Privatwirtschaft befasst sich mit solchen Bewertungen, zum Beispiel hat die Tönnies-Gruppe die ‚Klimaplattform Fleisch‘ entwickelt, um branchenweit für eine gemeinsame Lösung zu werben. Landwirte können damit ihren individuellen CO2-Fußabdruck auswerten lassen.
Von Seiten der EU ist ein entsprechendes Bewertungssystem der sogenannte PEF, der ‚Product Environmental Footprint‘. Er ist für einige Produkte bereits erarbeitet worden, für andere noch im Entstehen. Außerdem sind sogenannte Öko-Scores sehr verbreitet. Diese beruhen auf einer ganzheitlichen Lebens-zyklus-Analyse von Produkten. Einer dieser Scores wurde zum Beispiel schon von Lidl in Irland und in einzelnen Filialen in Berlin getestet. Ich gehe davon aus, dass Umweltbilanzierungen – in welcher Form auch immer – in der neuen EU-Legislaturperiode konkret angewendet werden können.
Sie arbeiten bei einem Unternehmen, das weltweit tätig ist. Was heißt Nachhaltigkeit dort, wie sieht Ihre tagtägliche Arbeit aus?
Das Leitbild von Big Dutchman lautet „Taking action for future generations!“ Wir betrachten Nachhaltigkeit also als inhärenten Bestandteil unserer täglichen Arbeit. Für mich selbst bedeutet dies vor allem, die Kolleginnen und Kollegen aus den unterschiedlichen Bereichen bei diversen Nachhaltigkeitsprojekten zu unterstützen. Diese reichen von der Erstellung eines CO2-Fußabdrucks unserer Produkte, über die Betrachtung unserer eigenen Lieferkette innerhalb und außerhalb Europas sowie der Weiterentwicklung von Mitarbeitenden und Führungskräften. Bis hin zu Dienstleistungen für unsere Kunden, um nachhaltig Protein zu erzeugen und den ökologischen Fußabdruck ihrer Produkte ausweisen zu können.
Darüber hinaus beschäftigen wir uns bei Big Dutchman mit neuen und nachhaltigen Geschäftsfeldern rund um die Erzeugung von Protein, aktuell sind das etwa die Insektenzucht oder der Gewächshausbau.
Ab dem kommenden Jahr sind wir von EU-Seite zudem verpflichtet, die sogenannte CSRD, also die ‚Corporate Social Responsibility Directive‘ umzusetzen. Und somit über den Stand der Nachhaltigkeit in unserem Unternehmen zu berichten. Das umfasst neben der klassischen Finanzberichterstattung eine Nachhaltigkeitsberichterstattung zu den Themen Umwelt, Soziales und Unternehmensführung. Das wird neben der oben genannten Projektarbeit einen wesentlichen Anteil meiner täglichen Arbeit ausmachen.
Eine persönliche Frage zum Schluss: Was bedeutet Nachhaltigkeit für Sie als Privatperson?
Nachhaltigkeit ist mir natürlich auch ein persönliches Anliegen. Ich denke, es ist ein Ur-Interesse von uns Menschen, dass das Leben über die eigene Existenz hinaus weitergeht. Unsere Kinder und Enkelkinder sollen noch einen lebenswerten Planeten vorfinden, auf dem sie ein zufriedenes Leben leben können. Dafür zu sorgen, soweit wir das in unserem Umfeld können, liegt meines Erachtens in der Verantwortung jedes Einzelnen. Und jeder von uns kann dazu jeden Tag seinen Beitrag leisten – sich auf das zu fokussieren, was andere nicht tun, ist aus meiner Sicht nur wenig dienlich.